Ist der Takt der Feind der Phrase?

von Hal Rice

Dies ist eine in 3 Stufen fortschreitende Diskussion. Wir müssen uns über Stufe 1 & 2 klar sein, bevor Stufe 3 Sinn machen kann. Aber zunächst eine Vorbemerkung.

Vorbemerkung

Es gibt ein seltsames Phänomen auf der Tanzfläche, nicht nur, aber auch, auf der Contra-Tanzfläche. Tänzer, meistens Frauen, aber auch manche Männer, "stampfen" den Boden. Natürlich nicht alle.
Vielleicht nicht einmal die Mehrzahl. Aber sicher eine erkleckliche Anzahl. Was sie tun, beschreibt man am Besten durch das Gegenteil. Sie bewegen sich nicht "fließend" über den Boden. Sie "gleiten" nicht. Der Square Dance Schritt - nach Sets in Order und Callerlab - soll ein geschmeidig und mühelos gleitender Schritt sein. Bei jedem Schritt soll der entlanggleitende Fußballen eher als die Ferse aufgesetzt werden. (Von wirklich geschmeidigen Tänzern wird die Ferse kaum aufgesetzt.) In allzu vielen Fällen sehe ich etwas anderes.
Die Tänzer, welche ich meine, marschieren. Sie hauen senkrecht und hart auf den Boden, und anscheinend "zählen" sie dabei. Die Ferse tritt zuerst auf.

Stufe 1

Wo liegt die Schuld? Schuhe stehen im Verdacht. Country-Western-Stiefel, hochhackige Schuhe usw. sind gebräuchlich geworden. Ebenso die aggressive "Attacke" auf den Boden, die beim Line Dance dazugehört. Bringen sie Square Dance durcheinander? Sicher! Aber Schuhe und ein gegensätzlicher Tanzstil sind nicht die ganze Antwort. Sie stören - ich vermute sogar, sie schaden - aber sie sind nicht der Kern des Problems.
Ein weiterer Schädling - aber nicht so auffällig - ist Sight Calling. Der heutige Square Dance fördert nicht Geschmeidigkeit. Er fördert "Ergebnisse". Geschmeidigkeit ist bestenfalls zweitrangig. Man kann einwenden, daß Sight Calling sich um geschmeidiges Tanzen bemüht, theoretisch. Fein! Aber praktisch wirkt es gegen Geschmeidigkeit. Wo heute geschmeidiges Tanzen vorkommt, geschieht es nicht durch, sondern trotz Sight Calling. Sight Calling fördert Stop & Start Tanzen. Denn Sight Calling ist sehr digital. Es beruht auf digitalen Figuren. Demzufolge wurden kreisförmige oder analoge Figuren von der Tanzfläche vertrieben. Geradeaus, klein-klein, ziehen & zerren, scharfe Ecken, stehen und warten, überall. Selten bewegen sich Tänzer mehr als vier Schritte in dieselbe Richtung, und schon vier Schritte sind übertrieben. Hat also Sight Calling die Schuld? Da könnt ihr drauf wetten. Aber nur in begrenztem Maße. Es gibt viele Tänzer, die Sight Calling überstanden haben, mit all dem Stop und Start Zeug, und weiterhin geschmeidig tanzen, wo immer sie können.
Nein, es geht etwas anderes vor. Nämlich: Square Dancing wurde zu Tanzen mit den Händen. Statt mit den Füßen tanzt man mit den Händen!
Bleibt ruhig. Das ist ein sehr verständlicher Vorgang. Sogar vorhersehbar.
Betrachtet den "Eins-A-Tänzer". Wenn "Eins-A" gut ist, kann das sehr gut sein. Wenn es aber nicht gut ist, ist es schlecht. Sehr schlecht. So schlimm, daß es niederdrückend ist und von der Tanzfläche verbannt gehört. Wenn ihr in letzter Zeit keinen "Eins-A-Tänzer" gesehen habt, dann habt ihr nicht aufgepaßt. Betrachtet vor allem die Männer. Sie sind so niederdrückend, daß ich es kaum aushalten kann.
Ein Schritt je Taktschlag? Nicht bei ihnen. Sie machen überhaupt keine "Schritte". Sie springen, sie greifen mit den Füßen aus, manche hüpfen sogar; 2 oder 3 Taktschläge vergehen, bis sie einen Fuß bewegt haben, aber sie merken es nicht. Ihre Füße haben kein Verhältnis zur Musik. Die Musik ist unwichtig. Sie brauchen keine. Musik übt keinerlei Einfluß auf ihre Füße aus. Sie langweilt.
Versucht, sie zu verstehen. Was tun sie? Ich sage es euch: Sie bewegen ihre Füße und Beine zu einem und nur zu einem Zweck, nämlich, um ihre Hände an die richtige Stelle zu bringen. Dazu hat es Sight Calling gebracht, nicht absichtlich, aber tatsächlich. Besonders bei den "A" und "C" Tänzern. Mir wurde von mehr als einem Aficionado gesagt: "Square Dance geschieht mit den Händen und nicht mit den Füßen."
Leider dringt dieser "A" und "C" Kram auch in das Mainstream und Plus Programm ein und korrumpiert das richtige Tanzen.
Das richtige Tanzen ist natürlich nicht auf die Füße beschränkt und war es auch nie. Als mehr "kreisend" und "taktmäßig" getanzt wurde, waren Drehungen um die Hände und Arme sehr beliebt.

Stufe 2

Nun kommen wir zu den "Stampfern". Meist sind es Frauen. Diese guten Leute tanzen wirklich einen Schritt je Taktschlag. Meistens, jedenfalls. Und sie tun es mit Rachsucht. Als ob sie es jemanden hinreiben wollten.
Den Grund findet man bald heraus. Sie tanzen auf den Takt der Musik genau deshalb, weil es die anderen nicht tun.
Also haben wir zwei Gruppen "Tänzer" auf der Tanzfläche. Diejenigen, die absichtlich nicht auf den Takt achten, und diejenigen, die absichtlich das Gegenteil tun wollen. Manchmal sind es Mann und Frau.
Interessant, aber pervers. Es gab eine Zeit, da war es so selbstverständlich, im Takt zu tanzen, wie Luft zu holen. "Damals" liebten Männer den Square Dance Schritt, auch wenn sie sich vor dem Wort "tanzen" fürchteten; er änderte ihre Meinung darüber, was "tanzen" von ihnen forderte. Was denn, im Takt gehen war einfach. Das kann jeder. Der Caller zeigte den "Square Dance Schritt" von Anfang an, im großen Kreis, und ließ nie mehr davon ab. Wer nicht im Takt tanzte, war ein Außenseiter, mehr bedauert als getadelt.
Wieso akzeptieren wir jetzt die Situation, daß "abweichendes" Verhalten so "normal" geworden ist, daß es den ganzen Square Dance infiziert?

Stufe 3

Diese Frage hat auch für den Contra Dance Bedeutung. Mehr als einmal habe ich von Contra Tänzern gehört: "Beim Contra Dance tanzen wir im Takt der Musik."
Gut gemeint, zweifellos. ABER: Diese Aussage hat keine Bedeutung. Überhaupt keine Bedeutung. Wenn im Square Dance alle im Takt tanzen würden, welchen Zweck hätte es dann zu sagen, daß wir im Contra Dance dasselbe tun? Man bräuchte sich nicht damit aufzuhalten. Wenn sich heute Tänzer damit aufhalten, kann es nur bedeuten, daß (a) im Takt zu tanzen nicht mehr die Regel ist, und (b) daß es im Contra Dance immer noch die Regel ist. Und hier kommt der Knackpunkt: Das Wort "Phrase" wird nie erwähnt. Versucht es. Fragt einen Contra Tänzer nach dem Unterschied zwischen Squares und Contras. Mit ziemlicher Sicherheit wird er das neue Mantra wiederholen: "Im Contra Dance tanzen wir im Takt mit der Musik."
In einer normalen Welt des Tanzens ist der Takt das Element der Übereinstimmung zwischen Square und Contra Dance. In der heutigen verdrehten Welt wird der Takt oft als das Element des Unterschieds zwischen Squares und Contras betrachtet. Dadurch bleibt der wirkliche Unterschied zwischen Squares und Contras unbeachtet und unerwähnt. Durch die Betonung des Taktes geht die Bedeutung der Phrasierung verloren. Dadurch ist im alltäglichen Gespräch am Rande der Tanzfläche und sogar im Reden der Caller der Takt zum Feind der Phrasierung geworden. Immer seltsamer, sagte der Tänzer mit den goldenen Haaren.
Eine ernsthafte Folge ist, daß "im Takt tanzen" zum Sesam-öffne-dich wurde, um Contra Dance zu "Square Dance in langen Linien" zu verdrehen.
Was ist zu tun? Wir sollten aufhören, über den "Takt" zu reden. Vielleicht sollten wir geradeswegs sagen, daß wir bei Contras nicht im "Takt" tanzen. "Wenn du denkst, wir sind hier, um im Takt zu tanzen, dann bist du hier falsch. Gehe zurück zum Square Dance und sage denen, sie sollen im Takt tanzen. Hier sind wir an der musikalischen Phrasierung interessiert, und danach tanzen wir."

Schlußfolgerung?

Die Botschaft ist deutlich genug. Wenn Contra Dance seine einmalige Identität als Tanzform behalten will, kann es sich nicht leisten, die Übereinstimmung mit den musikalischen Phrasen von acht Zählzeiten aufzugeben, welche der choreographische Maßstab unseres Tuns sind. Es ist kein Ersatz, mit dem Takt allein zufrieden zu sein.

Veröffentlicht in "CONTRALAB Quarterly" Sommer 1999.
Übersetzt von Heiner Fischle.


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Veröffentlicht 2003-01-08   /   Heiner Fischle, Hannover